Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung zur Deutung der Entwicklungen des Jugendalters im Dialog mit dem realen Leben der Schüler*innen
Fotos: SMMP/Lümmen
Artikel: Mariele Wischer
„Kommen Sie doch gerne nochmals an unsere Schule, um mit uns weiter zu Ihren Forschungen zu denken und zu arbeiten!“ Diese Einladung hatte Mariele Wischer, Lehrerin am Berufskolleg Canisiusstift, nach dem engagierten Vortrag von Prof. Ullrich Bauer anlässlich des 125jährigen Jubiläums des Berufskollegs im vergangenen Herbst ausgesprochen – und sie wurde von ihm angenommen!
Prof. Dr. Ullrich Bauer, der an der Universität Bielefeld die Professur für Sozialisationsforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft innehat, ist am 1. Juni für einen Schultag ans Berufskolleg Canisiusstift gekommen und hat dort den Schüler*innen und Studierenden aus verschiedenen Bildungsgängen offene Räume für die Auseinandersetzung mit seinen Forschungen geboten.
Dazu konnten die Schüler*innen und Studierenden nicht nur Fragen an den wissenschaftlichen Experten und Forscher stellen, vielmehr ging es in einem dynamischen Prozess darum, selbst offene Fragen des Jugendalters zu formulieren und dialogisch mit Ullrich Bauer auszuloten, inwiefern das von ihm mitentwickelte Modell der produktiven Realitätsverarbeitung als wissenschaftliche Konzeption dies zu fassen vermag. Dazu bemerkte Bauer: „Ich hoffe Sie sind nicht enttäuscht, auch ich habe zumeist viel mehr Fragen als Antworten!“ Dies motivierte die Studierenden umso mehr vorbehaltlos ihre Anfragen zu formulieren und eigene Denkweisen zum soziologischen Modell einzubringen. Genau das, so Bauer mache den „Flow“ beim Forschen aus.
Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung, das Klaus Hurrelmann grundlegend entwickelt und Ullrich Bauer in jüngerer Zeit mit ihm reformiert und erneuert hat, fasst die jugendliche Entwicklung in doppelter Perspektive: Einerseits ist sie geprägt von den äußeren Bedingungen und gesellschaftlich immer komplexer werdenden Kontexten. Andererseits ist diese „äußere Realität“ im Rahmen des Selbstwerdungsprozesses von Jugendlichen individuell mit der „inneren Realität“ zu verarbeiten – und das geschieht in „produktiven“ Prozessen. Grundannahmen, bedeutsame Kontexte und Herausforderungen, die für Jugendliche zwischen Prägung und Entscheidung eine Rolle spielen, benennt das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung in 10 Prinzipien.
Die angehenden Erzieher*innen der FSPU konnten durch das Modell die Herausforderungen des Jugendalters insbesondere im Hinblick auf ihr Berufsfeld in tieferer Weise erfassen. Zugleich wurden sie ermutigt die von Bauer präsentierten wissenschaftlichen Zugänge zu produktiver Realitätsverarbeitung Jugendlicher und ausgewählten Fragestellungen – wie die Entwicklung Jugendlicher als Kinder psychisch kranker Eltern – kritisch-konstruktiv anfragen – woraus sich ein für alle Seiten gleichermaßen lebendiger und erkenntnisreicher Diskurs entspann.
Die Schüler*innen des Leistungskurses Erziehungswissenschaften der Jahrgangstufe 12 hatten mit ihrer Lehrerin Frau Küster zum Modell der produktiven Realitätsverarbeitung nach Ullrich Bauer und Klaus Hurrelmann bereits gearbeitet. Dennoch ging es in dem lebendigen Austausch mit Prof Bauer nicht allein um Theoriefacetten, vielmehr traten die Schüler*innen als Expert-*innen ihrer eigenen Lebenswelt und des eigenen Jugendalters mit Prof. Bauer in einen Diskurs auf Augenhöhe über die gesellschaftlichen und individuellen Anforderungen des Jugendalters ein.
Die Herausforderungen der komplexen, unsteten und oftmals mehrdeutigen Zeiten, in die die Jugendlichen gegenwärtig hineinwachsen, wurden ebenso thematisiert wie konkrete Krisenphänomene, etwa die Klimakatastrophe, Kriege, Digitalisierung und wirtschaftliche Veränderungen, mit denen Jugendliche sich konfrontiert sehen. Dass sie dem aber nicht nur ausgesetzt sind, sondern wie sie darin handlungs- und gestaltungsfähig werden können, damit befasst sich das maßgeblich von Bauer entwickelten 10. Prinzip des Modells, das die Gestaltung und Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen durch Jugendliche ins Zentrum der soziologischen Überlegungen und Analysen rückt. Die Schüler*innen des Leistungskurses überlegten, in welcher Form sie heute politisch aktiv sein können, um ihre Zukunft entscheidend mitzugestalten – dass die Generation der „Babyboomer“, die derzeit die politischen Geschicke lenkt, dies in ihrem Sinne tun könne bezweifelten die Schüler*innen deutlich. So konnte an diesem Morgen mit Prof Bauer ausgehend von den Erfahrungen und Reflexionen der Schüler*innen praktisch ausgetestet werden, ob der analytischer Wert seines Modells etwas für die Selbstreflexion der Schüler*innen austrägt und sie sogar Selbstermächtigung durch das wissenschaftliche Modell erfahrenen können.
Auf die abschließende Frage von Prof. Bauer an die Schüler*innen, ob sie noch etwas wissen wollten, antwortete eine angehende Erzieherin: „Kommen Sie nächtes Jahr wieder? Ich möchte mit Ihnen weiter diskutieren, wenn ich mein Praktikum in der Jugendhilfe gemacht habe!“
Prof Bauer hat diese spontane Einladung ebenso spontan angenommen – so freut sich das Berufskolleg Canisiusstift auf eine weitere Kooperation mit dem Wissenschaftler im Schuljahr 2023/24!