Wenn eine Klasse den Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ von Alfred Andersch im Deutschunterricht liest, dann stellt sich bald die Frage nach der Figur des „Lesenden Klosterschülers“, um die sich der Roman rankt und dem Künstler, der sie schuf. Die Figur in dem Roman lehnt sich an die tatsächlich existierende Figur gleichen Namens von Ernst Barlach an. Ernst Barlach ist also quasi unausgesprochen als Künstler in dem Roman anwesend.
Die Klasse 13 des Bildungsgangs, der mit den Leistungskursen Kunst und Englisch an unserem berufskolleg zur allgemeinen Hochschulreife führt, bearbeitete also nicht nur im Deutschunterricht die Protagonisten des Romans, sondern erarbeite sich auch im Kunstunterricht die Biografie und das Werk des Künstlers Ernst Barlach. So erfuhren die Schüler/innen, dass Barlach wie die Protagonisten des Romans tief von der menschenverachtenden Politik und den Repressionen des Nationalsozialismus betroffen war.
Die Ausstellung „Interventionen – Ernst Barlach in Münster“ gab der Klasse die Gelegenheit, sich anhand von Originalen ein genaueres Bild von Barlach als Bildhauer, als Grafiker und als Schriftsteller und von seinem Werk zu verschaffen. Den „Lesenden Klosterschüler“ gibt es in Münster leider nicht zu sehen. Diese Ausstellung ist an verschieden Ausstellungsorten über einen großen Teil der Innenstadt von Münster verteilt.
Jeder Ausstellungsort behandelt ein besonderes Thema, mit dem Barlach und sein Werk erschlossen wird.
Zunächst traf die Klasse gemeinsam mit ihrer Deutschlehrerin Doris Küster und ihrem Kunstlehrer Ludger Müller die Ausstellungsführerin Annell Duscha in der Dominikanerkirche. Dort wurde ihnen an den ausgestellten Werken die künstlerische Entwicklung Barlachs von den frühen bis zu den späten Werken anschaulich erläutert. Beson-ders deutlich wird in diesem Teil der Ausstellung, wie Barlach nach seiner Russlandreise 1906 langsam seinen Stil fand und den Menschen typisierend in einer reduzierten, aber eindringlichen Formensprache in seinen ur-sprünglichen Empfindungen zwischen Freude und Trauer, Leid und Glück darstellt.
In der Apostelkirche lernten die Schüler/innen Ernst Barlach als Mystiker und Visionär kennen. An seinen Werken und Selbstzeugnissen wird deutlich, dass er durchaus als moderner Gottsucher zu verstehen ist, der auf der Suche nach den Strukturen hinter der sichtbaren Welt ist. Abschluss und Höhepunkt des geführten Ausstellungs-tages der Klasse war die St. Johannes-Kapelle, in der das Güstrower Ehrenmal, im Volksmund der „Güstrower Engel“, gezeigt wird. Diese mitten im Raum scheinbar schwebende Figur hat Barlach zum Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkrieges als Mahnmal des Friedens geschaffen, entgegen der aufkeimenden Ideologie des National-sozialismus, die den Soldaten des Ersten Weltkrieges als zu verehrenden Helden missbrauchten. Zur Überraschung der Klasse hatte gerade zum Zeitpunkt ihres Besuches eine Dame in der Kapelle die Aufsicht, die als Kind Barlach über ihren Großvater kennengelernt hat. Sie konnte aus ihrer Erinnerung von Barlach erzählen und wies ausdrücklich darauf hin, dass er die Figur nicht als „Engel“, sondern als „Schwebenden“ verstanden wissen wollte, der den Betrachter in stiller Versunkenheit an die menschlichen Grundwerte erinnern und zu Respekt und Verständnis auffordern will. Diese Aufforderung nahm die Klasse gerne an, setze sich im Kreis um den Schwebenden, um ihn von allen Seiten zeichnend ein Stück zu ergründen und aufzunehmen.